Mordanklage versus Unschuldsvermutung: ein Mord, der keiner war
Beschreibung
Einzelartikel aus:
Archiv für Kriminologie Band 255
Heft 3 und 4, März/April 2025
Verfasst von:
Klaus Püschel
Zusammenfassung
Eine 71-jährige Frau wird von ihrem 75-jährigem Ehemann in einer üblichen Schlafposition morgens tot im Bett aufgefunden. Die beiden schliefen seit langer Zeit in getrennten Zimmern. Die hinzugezogene Hausärztin konstatiert einerseits eine arterielle Hypertonie sowie eine zerebro-vaskuläre Verschlusskrankheit mit vorangegangenem Hirninfarkt im Mediastromgebiet; andererseits bescheinigt sie die Todesart als nichtnatürlich sowie ungeklärt. Bei der polizeilichen Leichenschau werden an der Verstorbenen punktförmige Blutungen im Bereich der Augen festgestellt. Der vor Ort anwesende Ehemann wird als emotionslos beschrieben. – Die gerichtliche Sektion findet erst nach einer Woche statt. Die hierbei gestellte Diagnose eines „gewaltsamen Erstickens“, hervorgerufen durch Brustkorbkompression sowie Verschluss der Atemöffnungen, führt umgehend zur Verhaftung des Ehemanns, der nunmehr fünf Monate in Untersuchungshaft verbleibt. Die Staatsanwaltschaft erhebt Mordanklage. Nach Vorlage aller Gutachten, kurz vor Beginn der bereits terminierten Hauptverhandlung gibt der Rechtsbeistand des Angeklagten ein weiteres rechtsmedizinisches Gutachten in Auftrag. Dies kommt zu dem Ergebnis, die 71-jährige Frau sei eines natürlichen Todes gestorben, nämlich durch plötzlichen Herztod infolge Rechtsherzversagen. Daraufhin wird der Angeklagte aus der Untersuchungshaft entlassen. Ein nunmehr vom zuständigen Schwurgericht zur Vorbereitung der Hauptverhandlung erstattetes drittes rechtsmedizinisches Gutachten kommt zu folgendem Ergebnis: „Die rechtsmedizinischen Befunde ergeben sowohl Hinweise auf einen natürlichen Tod im Zusammenhang mit einem kardialen Ereignis als auch Hinweise auf einen nicht-natürlichen Tod… Aus rechtsmedizinischer Sicht ist nicht mit ausreichender Sicherheit differenzierbar, ob es sich um einen natürlichen Tod oder einen nicht-natürlichen Tod handelt…“ Unter dem Eindruck dieses Gutachtens hat das Landgericht kein Hauptverfah- ren eröffnet. Es erging ein Einstellungsbeschluss. Dem zu Unrecht fünf Monate Inhaftierten wurde eine Entschädigung zugesprochen. Der 75-jährige hatte inzwischen praktisch sämtliche sozialen Kontakte und beruflichen Bindungen eingebüßt. – Die Entscheidungsfindung bei Polizei, Staatsanwaltschaft, Rechtsmedizin und Landgericht wird retrospektiv erörtert. Auf die bekannte Problematik bei der Diagnose eines todesursächlichen Erstickens (von „fremder Hand“) wird erneut hingewiesen.
Schlüsselwörter: Mechanisches Ersticken – petechiale Blutungen im Kopf-/Halsbereich – Blutungsneigung – ASS – Rechtsherzversagen – Untersuchungshaft – Mordanklage
Summary
A 71-year-old woman is found dead in bed by her 75-year-old husband in a usual sleeping position in the morning. The two had been sleeping in separate rooms for a long time. On the one hand, the family doctor consulted states arterial hypertension and cerebrovascular occlusive disease with a previous cerebral infarction; on the other hand, she certifies the manner of death as unnatural and unexplained. During the police post-mortem examination, punctual bleeding in the face and conjunctives is found on the deceased. The husband, who was present on site, is described as emotionless. – The forensic autopsy took place after a week. The diagnosis of “violent suffocation”, caused by chest compression and closure of the breathing openings, immediately leads to the arrest of the husband, who now remains in custody for five months. The public prosecutor’s office is charging him with murder. After submission of all expert reports, shortly before the start of the main hearing, which has already been scheduled, does the defendant’s legal counsel commission another forensic medical report. This comes to the conclusion that the 71-year-old woman died of natural cause, namely by sudden cardiac death as a result of right heart failure. As a result, the defendant is released from custody. A third forensic medical report now issued by the jury court in preparation for the main hearing comes to the following conclusion: “The forensic medical findings indicate both a natural death in connection with a cardiac event and signs of an unnatural death... From a forensic point of view, it is not possible to differentiate with sufficient certainty whether it is a natural or a non-natural death...”. Under the impression of this expert opinion, the Court did not open main proceedings. A decision to discontinue the proceedings was issued. The unjustly imprisoned man was awarded compensation. In the meantime, the 75-year-old had lost practically all social contacts and professional ties. – The decision-making process of the police, the public prosecutor’s office, forensic medicine and the court is discussed retrospectively. The well-known problem in the diagnosis of suffocation (by a “foreign hand”...) is again pointed out.
Key words: Mechanical asphyxiation – petechial bleedings – antithrombotic medication – right heart failure – investigation arrest – accusation of murder
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